Evangeliar

Beiträge "Auf ein Wort"

Jungbrunnen

Liebe Leserin, lieber Leser,

zum ersten Mal darf ich mich hier in den Pfarrnachrichten „Auf ein Wort“ an Sie wenden. Wobei mir natürlich völlig klar ist, dass es mit nur „einem“ Wort nicht getan ist, sondern dass eine ganze Seite gefüllt werden muss. Aber mit welchem Inhalt? Welches Thema könnte für Sie, die Leserinnen und Leser, von Interesse sein? Seit ich vor gut einem Monat hier als Krankenhauspfarrer aufgeschlagen bin, kenne ich ein paar Namen und einige Abläufe, das Krankenhaus, einige der schönen Kirchen in Bad Driburg und den Dörfern - aber das war's auch schon. Hintergründig-aktuelles aus dem Pastoralen Raum zu kommentieren fühle ich mich zur Zeit einfach noch nicht kompetent.
Da kommt mir bei der Themensuche unlängst im Krankenhaus eine Patientin (nicht von hier!) zu Hilfe. Die 85jährige alte Dame ist nach einem Schwächeanfall schon fast drei Wochen dort, und langsam aber sicher wird es ihr langweilig. Bei unserem Gespräch freut sie sich schon auf ihre in Kürze bevor-stehende Entlassung nach Hause. Jetzt ist sie wieder guten Mutes, die drei Wochen im Krankenhaus seien für sie, wie sie wiederholt betont, „wie ein Jungbrunnen“ gewesen.
Hand auf's Herz: hin und wieder könnten wir - besonders jetzt im November - wohl alle einen Jung-brunnen gebrauchen - es muss ja nicht gleich das Krankenhaus sein. Ein Jungbrunnen für das seelische Wohlbefinden wäre da ein guter Anfang, denn bekanntlich ist man immer so jung wie man sich fühlt. Gefühle, besonders die von der jugendlichen Sorte, haben wohl für die meisten Menschen ganz viel mit Musik zu tun. Der Soundtrack oder auch die Playlist des eigenen Lebens, besonders aus der Jugendzeit: das ist Musik, das sind Lieder, bei denen es einem, immer wenn man sie hört, auch noch nach Jahrzehnten einen wohligen Schauer über den Rücken jagt, die Bilder und Erinnerungen in ei-nem aufsteigen lassen, ein bisschen wehmütig zwar, aber die vor allem zuverlässig über den alltägli-chen Kleinkram und Ärger erheben, ein Gefühl von Freiheit entstehen lassen und das Bewusstsein da-für stärken, dass es im Leben mehr als alles geben muss.
Für mich persönlich gehört dazu die Musik von ABBA aus den 70er und 80er Jahren. Zwischen 20 und 80 kann sich - so wage ich zu behaupten - fast jede und jeder etwas darunter vorstellen, denn es ist offenbar eine Musik, die an sich keinen Jungbrunnen nötig hat. Zum Thema Jungbrunnen passt daher irgendwie auch, dass ABBA jetzt nach 40(!) Jahren Pause wieder ein neues Album herausgebracht haben. Es hört sich neu an und macht Spaß, aber zugleich klingt es auch so wie früher, obwohl die vier Bandmitglieder inzwischen alle über 70 sind - und auch ich nicht mehr 15, sondern 56.
Das erste Stück auf dem jetzt veröffentlichten neuen Album „Voyage“ (Reise) trägt den Titel "I Still Have Faith In You“ (Ich vertraue dir immer noch). Im Text dieser nachdenklichen Ballade geht es um Vergangenes, Gegenwärtiges und Zukünftiges, um das was war, was ist und was sein wird, um das Vertrauen, die Hoffnung und letztlich die Liebe, die alles verbindet. „Do i have it in me?“ (Habe ich es in mir?“ ) Den Jungbrunnen der Seele finde ich nicht irgendwo da draußen, sondern in mir selbst: „Wir haben es wirklich in uns / Ein neuer Geist erfüllt uns / Die Freude und der Kummer / Wir haben eine Geschichte / Und sie hat überlebt“, heißt es in dem Lied weiter.
Ein Jungbrunnen - wäre das nicht auch etwas für unsere Kirche? Ich erinnere mich an einen markanten Satz aus der ersten Predigt Papst Benedikts XVI. nach seinem Amtsantritt 2005: „Die Kirche lebt. Und die Kirche ist jung.“ Auch wenn es oft nicht danach aussieht, vertraue ich ihr: Die Kirche hat es in sich, sich zu erneuern - wenn sie sich vom Geist Gottes neu erfüllen lässt.
Über Musikgeschmack kann man trefflich streiten. Was für den einen ABBA ist, sind für den anderen die Beatles, die Stones, Udo Lindenberg, Roland Kaiser, Helene Fischer oder wer auch immer. Für mich ist Musik jedenfalls so ein Jungbrunnen - und mehr noch die Gewissheit, Gottes geliebtes Kind zu sein, egal wie alt man ist oder sich fühlt - ob mit 56, 70 oder 85.

Es grüßt Sie herzlich

Ansgar Wiemers