Evangeliar

Beiträge "Auf ein Wort"

"Ein Tag wie ein ganzes Jahr“

Liebe Leserin, lieber Leser,

"Ein Tag wie ein ganzes Jahr“ kenne ich (vielleicht ist es das auch immer noch) als ein beliebtes Spiel im Kinderferienlager. Früh morgens ging es mit einer Überraschung los: drei als die Heiligen drei Könige verkleidete Leiterinnen und Leiter weckten die Kinder, zum Frühstück war dann auch schon Karneval mit Verkleiden, Luftschlangen und Berlinern. Am späteren Vormittag wurden Ostereier versteckt bzw. gesucht. Zu Mittag war dann Schützenfest mit Königsschießen, Festumzug, Grillwürstchen, Cola und Pommes, dann zur Erholung die Sommerferien im Freibad oder am Kiessee. Zum Abendessen folgte dann Erntedank, am späteren Abend die Weihnachtsbescherung unterm Christbaum, und dann endete der „Tag wie ein Jahr“mit einem grandiosen Silvesterfeuerwerk.

"Eine Woche wie ein ganzes Leben", so könnte man die Karwoche, also die Woche zwischen Palmsonntag und Ostern, überschreiben. Aber so sicher wie jedes Jahr mit einem Silvesterfeuerwerk endet, so endet jedes Leben mit dem Tod. Das war bei Jesus nicht anders. Seine letzte Woche in Jerusalem läuft trotz aller „Hosianna!“-Rufe unweigerlich auf das „Kreuzige ihn!“ hinaus. Die Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern spitzen sich zu, sie fassen den Plan, ihn zu töten. Nur noch wenige seiner Jüngerinnen und Jünger sind bei ihm, mit ihnen hält er ein letztes Mahl, damit sie ihn und seine frohe Botschaft auch bestimmt nicht vergessen und sich immer wieder daran erinnern. Und am Ende sind sie dann da, Verlassenheit, Hoffnungslosigkeit, Todesangst: „Vater, wenn es möglich ist, gehe dieser Kelch an mir vorüber… es geschehe dein Wille… Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (vgl. Mt 26 und 27).

Und ich? Mit viel Energie und kindlichem Gottvertrauen bin ich ins Leben gestartet. Ich hatte einen Plan vom Glück, eine Überzeugung, wie Leben gelingt, für mich und für die anderen. Anfängliche Erfolge scheinen mir Recht zu geben. Doch mit der Zeit heißt es immer häufiger Abschied nehmen von bunten Träumen, die doch so erreichbar schienen, von Menschen, die Geborgenheit und Rückhalt schenkten. Das Leben endet immer tödlich, am Ende bin ich der Verlierer. Eine Zeit lang hilft es, diese Erkenntnis zu verdrängen, jetzt erst recht und trotzdem weitermachen aus Wut über die anderen und über mich selbst. Hilft aber nichts, auch nicht Verhandeln mit einem blinden Schicksal. Schließlich Verzweiflung, Akzeptanz als minimale Chance, um Frieden zu schließen mit einem Leben, von dem der Tod immer mehr ein spürbarer Teil ist: „Herr, lehre uns, dass wir sterben müssen, dass Brücken brechen, denen wir vertraut…“ (GL 508).

Von zwei Seiten blickt die Heilige Woche auf das Geheimnis von Tod und Leben. „Eine Woche wie ein ganzes Leben“ - das Leben Jesu, aber auch meines. Als Christinnen und Christen feiern wir die Heilige Woche jedes Jahr im Wissen um die Auferstehung, d. h. aus der nachösterlichen Perspektive. Wir leben unser ganzes Leben vor dem Tod aus der nachösterliche Perspektive des Lebens nach dem Tod. Daran erinnern die buntgeschmückten Zweige des Palmsonntags, mit denen wir die Kreuze in unseren Wohnzimmern, aber auch über den Kranken- und Sterbebetten schmücken. Die Palmzweige an das Kreuz gesteckt, österliches Zeichen für das aufbrechende Leben mitten im Tod, alle Tage, das ganze Jahr hindurch: Eine Woche wie ein ganzes Leben.

Ich wünsche uns allen eine gesegnete Karwoche und frohe Ostern!

Ansgar Wiemers

Krankenhauspfarrer