Evangeliar

Beiträge "Auf ein Wort"

"Schlüsselerlebnis"

Liebe Leserin, lieber Leser,

unlängst hatte ich ein "Schlüsselerlebnis", und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Mein Schlüsselbund war verschwunden, samt Haus- und Autoschlüssel, spurlos. Ich kehrte das Innerste meiner Jacke und meines Rucksacks nach außen, suchte alle Taschen mehrfach ab - der Schlüsselbund blieb verschwunden. Unter Stühlen und Tischen - nichts. Wo konnte er bloß sein?
Theoretisch gab es doch gar nicht so viele Möglichkeiten. Ich erkundigte mich im Pfarrbüro, in der Apotheke, im Bioladen, ob vielleicht dort mein Schlüsselbund von einem ehrlichen Finder abgegeben worden sei - leider nein. Ich war mit meinem Latein am Ende.

Nun ist der Verlust eines Schlüsselbunds keine wirklich dramatische, wenn auch eine äußerst ärgerliche Situation. Umso mehr tat es gut, in meiner misslichen Lage die Hilfsbereitschaft anderer Menschen zu erfahren, die sich mein Problem spontan zu eigen machten und mithalfen zu suchen und zu überlegen, wo mein Schlüsselbund wohl sein könnte. Mein Glück im Unglück war es, dass ich in einem Pfarrhaus wohne, zu dem sich immer irgendwo ein Ersatzschlüssel findet. So konnte ich wenigstens in meine Wohnung und hatte für die Nacht ein Dach über dem Kopf.

Dort angekommen hatte ich dann auch Zeit, über das bisher Erlebte nachzudenken. So etwas soll mir nicht noch einmal passieren. Wo bzw. bei wem könnte ich für solche Notfälle einen Ersatzschlüssel hinterlegen, könnte es vorbeugend sinnvoll sein, meinen Schlüsselbund an die (Schlüssel-)Kette zu legen, und so weiter und so fort. Als Theologe kam mir dabei sehr schnell der Gedanke, ob es solche "Schlüsselerlebnisse" auch im übertragenen Sinne geben kann, also z. B. im Hinblick auf das Leben allgemein, oder auch bezogen auf meinen Glauben. Der Glaube kann für uns Christen wie ein Schlüssel sein, um lebensnotwendige Türen zu öffnen: zum Grund unserer Hoffnung, die uns auch im Alltag trägt und tröstet; oder zu dem heiligen Raum tief in uns, zu dem nur wir selbst Zugang haben, und wo wir immer wieder Gott begegnen können. Dieser Schlüssel kann verloren gehen, und dann braucht es außer der eigenen Bereitschaft zu suchen auch Menschen, die da sind und engagiert suchen helfen. Ließe sich vielleicht sogar ein "Ersatzschlüssel" hinterlegen für den Fall, dass mir der gewohnte und scheinbar selbstverständliche Zugang zum Glauben verschlossen bleibt, z. B. in Zeiten großer persönlicher Herausforderungen, bei schwerer Krankheit oder tiefer Trauer? Ein solcher Ersatzschlüssel könnte dann ein Mensch sein, dem ich vertrauen kann und von dem ich sicher weiß, dass er oder sie sich auf jeden Fall Zeit nimmt, mir zuzuhören. Oder ein bestimmter Ort, z. B. eine Kirche oder ein lieb gewordenes Gebet, ein Text oder ein Gedicht, jedenfalls etwas, das mich früher schon einmal berührt und gestärkt hat und mich auch jetzt wieder nach Hause bringt.

Meinen Schlüsselbund habe ich übrigens wenig später doch noch wiedergefunden - ein Schlüsselerlebnis mit Happy End. :-)

Es grüßt Sie herzlich

Ansgar Wiemers
Krankenhauspfarrer