Evangeliar

Beiträge "Auf ein Wort"

.... ohne Worte

„Ich kann nicht mehr beten“, diesen Satz hörte ich von einer augenscheinlich deprimierten Person nach einem Wortgottesdienst. Dieser Satz ist mir als Rehaklinik-Seelsorgerin nicht fremd. Ich war aber doch leicht verwundert, weil diese Person während des gemeinsamen Betens alle Gebete mitgesprochen und auch Lieder mitgesungen hatte. Mir war augenscheinlich nichts aufgefallen. Sie hatte gewartet bis wir nur noch zu dritt im Raum waren und kam auf mich zu. Die andere Person war sehr empathisch und zog sich sogleich rücksichtsvoll zurück. Ich setzte mich zu ihr und fragte, wie sich das Nicht-beten-können denn bei ihr zeigen würde.

Mit dem Beten hatte ich nämlich in der Zeit meines Religionspädagogik-Studiums eine sehr persönlich-bereichernde Erfahrung gemacht. Während einer Exerzitienwoche wurden wir zur Meditation angeleitet. Ich hatte vorher nie meditiert und das auch gar nicht mit Gebet in Verbindung gebracht. In dem Haus gab es einen wunderschönen Raum mit Kissen und Gebetshockern und einer Fensterfront, die den Blick in die Natur ermöglichte. Wir waren aufgefordert, statt Gebete zu zitieren zur Ruhe zu kommen, still zu werden und auf Gottes Ansprache zu warten. Alle Gedanken unseres Alltags sollten wir ausblenden und uns Zeit für Gott nehmen.

Sich ganz auf Gott einlassen und seine Gegenwart erspüren ohne irgendwelche Worte zu formulieren oder Gebete herunterzuleiern, ist eine wunderbare Form des Gebets. Einfach nur da sein, sich Zeit lassen vor Gottes Angesicht ist wohltuend und heilend. Nichts tun, nur sein. Gedanken dürfen kommen und angeschaut werden, dann auch wieder weiterziehen. Das ist ein sehr achtsamer Umgang mit der eigenen Person und hilft, das Leben zu entschleunigen und Klarheit zu gewinnen. Gott selbst ist dabei die Kraftquelle. Denn Gott will uns Menschen dienen. Es ist nicht so, dass wir ihm mit unserem Gebet dienen würden. Er liebt uns, ohne Ansprüche zu stellen.

Dennoch kenne ich durchaus dieses Gefühl, nicht mehr beten zu können. Es hat mit einem Gefühl der Verlassenheit zu tun und dann fühle ich mich einfach kraftlos, allein und unverstanden. Ich weiß nicht mehr weiter, weil mein Leben gerade aus den Fugen geraten ist und ich keinen Ausweg mehr sehe. Ich sehe kein Licht im Tunnel. Woher soll da Hoffnung kommen?

Das Nicht-beten-können beschrieb die deprimierte Person sehr anschaulich: Sie hatte immer ausführlich ihre Sorgen und Gedanken ins Wort bringen können und diese fehlten ihr gerade. Sie fühlte sich wortkarg, war aufgrund einer Erkrankung auf den Rollstuhl angewiesen und aus ihrem gewohnten Leben herauskatapultiert worden. Im Gottesdienst hatten wir schon das Liedgut als Gebet identifiziert. Als ich sie dann fragte, ob sie sich ein Gebet ohne Worte vorstellen könnte, stutzte sie und überlegte lange. Ich erinnerte leise an all die kranken und verstummten Menschen und dann antwortete sie nachdenklich: „Gott liebt uns doch auch ohne Worte.“

Annette Wagemeyer
Rehaklinikseelsorgerin in Bad Driburg