Neuenheerse_II

St. Saturnina Neuenheerse

Die Geschichte der Kreuzwegdarstellungen in Neuenheerse

Vorgänger - Kreuzwege

„Mitte der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts bekam die Kirche von Neuenheerse einen Kreuzweg, geschnitzt im Halbrelief und farblich gefasst in großen verzierten Tafeln im Nazarenerstil. Die Kreuzwegstationen waren in den Seitenschiffen angebracht. Weder der Name des Künstlers noch eines Stifters sind uns überliefert. Aber jener Kreuzweg hat Generationen von Christen in unserer Gemeinde beeindruckt. „Vor ihm konnten wir beten“, sagen die Älteren. Sie fanden durch die Darstellung einen Zugang zum Geheimnis des Leidens und Sterbens unseres Herrn Jesus Christus.

Zu Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts war der Nazarenerstil verpönt. Der Kreuzweg verschwand. Man sagt, er sei „in die Mission nach Afrika“ gebracht worden. Aufzeichnungen darüber gibt es nicht. Von da an, bis zum Beginn der Innenrenovierung der Kirche im Jahre 1992, hingen in der Krypta gerahmte Drucke (ca. 20 x 30 cm) der 14 Kreuzwegstationen im Stil der 30er und 40er Jahre des 20. Jahrhunderts. Dieser Kreuzweg wird bis heute aufbewahrt. Er wurde jedoch aus ästhetischen Gründen nach Abschluss der Renovierung 1994 nicht mehr in der Kirche angebracht.

Seit 1996 bin ich Seelsorger in der Gemeinde, und seitdem wurde im Pfarrgemeinderat immer wieder die Kreuzwegfrage gestellt. Zunächst verständigte man sich im PGR darauf, dass die Drucke aus den 60er Jahren tatsächlich weder eine ästhetische noch eine spirituelle Bereicherung für die Kirche wären. Aber der Wunsch blieb: „Wir möchten einen Kreuzweg.“

 

Aus der Not wurde dann eine Tugend geboren. Über vier Jahre hinweg gestalteten Kinder, Frauen und Männer aus unserer Gemeinde Kreuzwegstationen nur für die Fastenzeit. Diese Stationen waren – meist theologisch begründet - an verschiedenen Orten in der ganzen Kirche aufgestellt. Und viele kamen und betrachteten im Gehen miteinander den Kreuzweg. Der Weg des Betenden führte kreuz und quer durch die Kirche.

Während dieser Zeit wurde in der Gemeinde gesammelt und Pfarrfesterlöse wurden aufgespart, um endlich wieder einen fest installierten Kreuzweg in die Kirche zu bekommen.

Ich gestehe, dass ich sehr zögerlich war. Allzu oft war es in der Geschichte der Kirche so, dass am Anfang Begeisterung und Engagement standen. Dann aber, nachdem diese Begeisterung eine Form gefunden hatte, blieben oft nur noch Institution und Formalismus übrig. Doch Jahr für Jahr einen neuen Kreuzweg entwerfen, das übersteigt die Kräfte einer so kleinen Gemeinde.

Nun kam alles Schlag auf Schlag. Da war jemand, der wies auf den Künstler Joseph Krautwald aus Rheine und auf einen von ihm geschaffenen Kreuzweg hin, der in seiner Tiefe und Ausdruckskraft für sich spricht.

Und dann kamen Christen, die mir ganz schlicht sagten: „Wir haben viel zu danken und wir möchten diesen Kreuzweg für die Kirche in Neuenheerse stiften.“

Worte, die keines Kommentars bedürfen.

Der Kreuzweg von Joseph Krautwald besteht aus 15 Halbrelieftafeln, ca. 40 x 55 cm groß in Bronze gegossen.

Am 9. Februar 2001 konnte ich den Kreuzweg den Mitgliedern des Pfarrgemeinderates und des Kirchenvorstandes in der Kirche vorstellen und erläutern. Die Vertreter der Gemeinde sprachen sich fast einhellig dafür aus, diesen Kreuzweg in unserer Kirche anzubringen. Dass es sich um eine Stiftung handelt, wussten sie bis zu diesem Zeitpunkt nicht.

Pünktlich zur Fastenzeit des Jahres 2001 hatten fleißige Helfer den Kreuzweg angebracht.

Doch nun standen wir vor einer neuen Frage und – ich möchte es so ausdrücken – einer Versuchung. Was machen wir mit dem Geld, das wir für den Kreuzweg angespart haben, das immer noch sicher auf dem Konto liegt und jetzt, da der Kreuzweg so zu sagen uns geschenkt wurde, eigentlich übrig ist?

Ich gestehe, dass es mich als Seelsorger freut, dass sich nach ernsthafter Diskussion die Frauen und Männer des Pfarrgemeinderates dafür entschieden, das Geld einfach weiterzuschenken an Menschen, die es nötiger haben als wir. Die Logik ist einfach: Wir wurden beschenkt. Als Beschenkte finden wir die Freiheit, selbst zu Schenkenden zu werden.“

Der Kreuzweg in unserer Kirche

Durch 1.000 Jahre hat der Glaube der Menschen in der Kirche der heiligen Saturnina einen Ausdruck gefunden: die mächtige ottonische Säule beim Taufstein, die Krypta und die allegorischen Figuren an den Wandvorlegern aus der Zeit der Romanik, die Einwölbung des Kirchenschiffes und das Chorgitter aus der Zeit der Gotik, der Renaissancetaufstein, dann die prächtigen Barockaltäre und das klassizistische Chorgestühl. Das sind nur einige markante Ausdrucksformen des Glaubens der Menschen in unserer Gemeinde während des vergangenen Jahrtausends. Vielleicht ist es das, was heute an dieser Kirche fasziniert: kein klarer Stil einer Epoche; alles scheint in dieser Kirche Platz zu haben, was Menschen erlebt, erlitten, erhofft und geglaubt haben, Menschen, denen wir unseren Glauben heute mitverdanken.

Diese Kirche ist kein Museum. Jeden Sonntag versammeln wir uns, um das Wort Gottes zu hören, um die Freude und Hoffnung, die Trauer und Angst der Menschen unserer Tage vor Gott hinzutragen. Jeden Sonntag feiern wir das Gedächtnismahl Jesu Christi in Treue zu seinem Auftrag. Und deshalb darf auch unser Glaube in diese Kirche eingeschrieben werden.

Wenn ein „moderner“ Kreuzweg uns etwas von Gott erahnen lässt, dann kann er auch in einer uralten Kirche kein Fremdkörper sein.

Noch etwas ist zu erwähnen: Die Kirche war bis zum Jahre 1810 Stiftskirche. Den Ursprung dieses Wortes ernst nehmend gab es von der Gründung im Jahre 868 an durch alle Zeiten hindurch Menschen, die zur größeren Ehre Gottes aus ihren Gütern etwas für die Kirche gestiftet haben. Die Seitenaltäre, der Taufstein und viele der sakralen Gefäße unserer Schatzkammer sind dafür beredte Zeugnisse. Es tut gut zu erleben, dass solch eine Haltung auch heute lebendig ist.

„Jeder gebe, wie er es sich in seinem Herzen vorgenommen hat, nicht verdrossen und nicht unter Zwang; denn Gott liebt einen fröhlichen Geber.“ (2 Kor 9,7)

Warum es ein Weg sein muss

In den Jahren, als die Kreuzwegstationen in Form von Collagen an verschiedenen Orten in der Kirche installiert waren, haben wir gespürt, dass ein Kreuzweg auch mit den Füßen gebetet werden muss. Der Weg ist uns wichtig geworden. Deshalb wurden die Stationen so angebracht, dass wir uns be-weg-en müssen. Leid bewegt. Jesu Leid hatte eine Richtung, ein Ziel, einen Sinn. Das Wort „Sinn“ aber geht in seiner Wurzel zurück auf den althochdeutschen Begriff für Weg. Mit Jesus Christus also machen wir uns auf den Weg und suchen einen Sinn in all dem Chaos und unbegreiflichen Leid dieser Welt.

Wer den Kreuzweg betend gehen will, ...

... beginnt im südlichen Seitenschiff an der Tür des ehem. Kapitelsaales. Dort wurden zu Stiftszeiten Entscheidungen getroffen, dort wurde geurteilt, beurteilt und wohl auch verurteilt.

An der Südwand geht es dann entlang nach Westen. Die 4. und 5. Station („Jesus begegnete seiner Mutter“ und „Simon hilft das Kreuz tragen“) sind an den Innenseiten der beiden hinteren achteckigen Pfeiler angebracht. Wenn die Bänke beim Gottesdienst besetzt sind, gehören diese Stationen dann gleichsam mit zur Gemeinde. Sie wollen erinnern, dass unser Gottesdienst seinen tiefsten Ausdruck im Dienst an den leidenden Schwestern und Brüdern findet.

Wir folgen den Spuren Jesu weiter entlang der Nordwand vom Eingang aus in Richtung Osten zur Krypta hin. Auffallend ist der 3. Fall Jesu, die 9. Station. Sie hängt tief. Der Blick fällt von oben herab auf den im Dreck liegenden Christus. So stehen wir zunächst in die Gruppe der Gaffer, die wohl auch damals sensationshungrig, unberührt und unbeteiligt den Weg säumten und auf den herabblickten, der da im Schmutz lag. Wer Gott hier wirklich begegnen will, der muss sich also tief bücken.

Die Szene von Golgota führt uns in die Krypta. War doch der Weg hinauf auf den Berg der totale Abstieg in das tiefste Leiden des Menschen überhaupt. Der Tod Jesu, die 12. Station, ist der äußerste und abgelegenste Winkel der Krypta (Nordost) direkt neben dem barocken Kreuzigungsaltar. Dann die Kreuzabnahme, das Leid der Mutter, sie hat ihren Platz an der Marienkapelle. Die 14. Station, die Grablegung, findet sich bei der Confessio, die in gewisser Weise das Grab der Heiligen in unserer Kirche ist. An diesem Platz, an dem die Heiligen die Wiederkunft Christi erwarten, könnten wir den Kreuzweg beenden.

Doch unser Weg ist noch nicht zu Ende. Die schmale Treppe, links der 14. Station, führt empor zum Hochchor. Sie wird zum Symbol für die Enge des Todes, der aber ins Leben führt. Oben bei der 15. Station erwartet uns nichts anderes als damals den ersten Zeugen: ein Engel, der die Auferstehungsbotschaft weitersagt. Und er weist mit der Linken nach oben, hin zum Hochaltar, auf dessen Relief exemplarisch an Maria dargestellt ist, was uns in der Auferstehung Jesu versprochen ist.

Meine Gedanken zu den einzelnen Stationen des Kreuzweges sind spontan, oft noch oberflächlich und möchten den Leser eigentlich nur einladen sich selbst in einer stillen Stunde auf den Weg zu machen, um die Stationen des Leidens und Sterbens unseres Herrn zu betrachten, um selbst mit IHM zu gehen.

Manches im Leben können wir eben nicht vom Wohnzimmersessel aus erleben. Ja, für die wirklich wesentlichen Erfahrungen muss ich mich auf den Weg machen.“

P. Thomas Wunram